„…Vergänglichkeit und Lebendigkeit, Verletzlichkeit und Stärke – zwischen diesen Polen bewegt sich ihr Schaffen. …“

Die Vorhänge vor der Realität. Zur Arbeit von Brigitte Dümling.
Margot Klütsch, Katalogbeitrag zur Ausstellung Städt. Galerie Meerbusch 1992

Der von Brigitte Dümling geschätzte Bildhauer und Maler Alberto Giacometti äußerte einmal, er empfinde sein künstlerisches Schaffen wie das Wegreißen eines Vorhangs von der Realität, daß aber nach diesem ersten Vorhang immer weitere folgten. Mit dieser Metapher kann man auch Brigitte Dümlings Arbeit sowohl in ihrer bisherigen Entwicklung wie im Detail beschreiben. Ihre Zeichnungen ließen vor etwa zehn Jahren noch ihren materiellen Ursprung- ein Gesicht, eine Landschaft- erkennen; die jüngeren Arbeiten hingegen erlauben nur noch den Rückschluß  auf Gesehenes, Gehörtes, Empfundenes zu. Folgen von Zeichnungen wie die eines Portraits oder eines architektonischen Details bestätigen in ihrem Ablauf ebenfalls das von Giacometti  benutzte Bild. Bei ihnen wird die Realität zunächst auf Wesentliches reduziert, entkernt, ja entmaterialisiert, bis nur noch die Erinnerung an sie übrig bleibt. Brigitte Dümlings Thema ist das Festhalten des Vergänglichen.
Brigitte Dümlings Arbeitsweise läßt sich in folgender Weise charakterisieren: Oft steht am Anfang einer Reihe von Zeichnungen(Abb…) ein Blatt mit einer mageren Struktur, bestimmt durch die Reduzierung der zeichnerischen Mittel. Sehr feine, sparsam gesetzte Striche lassen der Leere des Blattes genügend Raum, belegen den Prozeß der Entmaterialisierung , das Verschwinden der äußeren  Realität oder- um im Bild Giacomettis zu bleiben- Vorhang um Vorhang wird weggezogen, der Kern freigelegt.
Für Brigitte Dümling ist Wirklichkeit mehrschichtig. In die konkrete Anschauung fließen Assoziationen an Geschichte, an Stimmungen, an Töne ein. Dem ersten Takt der Befreiung von Zufälligem folgt nun ein Prozeß der Bereicherung. Sie äußert sich in volleren, verdichteten Arbeiten, die kompakter in der Strich- und Pinselführung werden, und im Ausfüllen der Fläche. In der Vielschichtigkeit entsprechen sie den vielschichtigen Assoziationen Brigitte Dümlings. Es entstehen Serien von Blättern mit einem Crescendo in Form und Spannung. Eine wichtige Rolle spielt die Farbe, auch sie mit steigender Intensität. Das Geheimnis von Brigitte Dümlings Arbeit  besteht darin , Gesehenes zunächst weitgehend von den vorgegebenen Elementen zu entkleiden, um es dann aber wieder subjektiv mit Formen und Farben aufzufüllen. Nach der Reduzierung der Wirklichkeit auf ein Minimum- sie spiegelt sich im sparsamsten Einsatz zeichnerischer und malerischer Mittel- folgt die Aufladung der Wirklichkeit mit den eigenen Eindrücken und Empfindungen. Diese oft synästhetische Bereicherung bringt Brigitte Dümling in einer entsprechend dichten Bildsprache zum Ausdruck.            
                     Im Verlauf von Dümlings Arbeitsprozess findet außerdem häufig eine Entwicklung von der Fläche zum Raum statt. Bei ersten zarten Farbstift- oder Ölkreidezeichnungen bleiben die sparsamen Striche dem Flächenhaften  verhaftet und fügen sich auch der Blattfläche widerspruchslos ein. Die folgenden Blätter lassen in verstärkt  herausgearbeiteten Hell-Dunkel-Werten Ansätze von Tiefe ahnen. Ebenso führt die Dynamisierung dazu, daß die Zeichnung ihren vorgegebenen Rahmen  durch Über-schneidungen zu ignorieren sucht. Die dadurch eingeleitete Sprengung des Bildträgers führt die Künstlerin konsequent mit ihren gemalten Holzbildtäfelchen weiter. Diese kleinen, in spannungs-vollen Gruppen auf unterschiedlicher Höhe angebrachten Ölbilder strahlen auf die gesamte Umgebung ab, besetzen kraftvoll den Raum, treten in eine dynamische Wechselwirkung und steigern sich gegenseitig in ihrer Aussage. Eine deutliche Farbigkeit unterstreicht dieses Vorgehen.
Ob Farbstift-, Kohlezeichnung, Lithografie oder Ölbild- die Arbeiten Brigitte Dümlings enthalten nicht einmal eine Andeutung von Perspektive im herkömmlichen Sinn. Trotzdem  erwecken sie häufig einen Eindruck von Tiefe und Räumlichkeit,…. Dieses Gegeneinander erzeugt Spannung, aber nie Dramatik, deutet auf Kraft, aber nicht auf Aggression. Oft drängen zarte transparente  Farbschleier die intensiv aufbrechende Farbigkeit zurück. Besonders die aus einer Mischung verschiedener Materialien  entstandenen Zeichnungen legen den Arbeitsprozess  der Künstlerin offen: Der Betrachter kann Schicht um Schicht die Entstehungs-geschichte der Arbeit verfolgen. Bei längerem Hinsehen dringt man, von der Oberfläche ausgehend, Haut um Haut in das Bild ein. Dieser Vorgang legt nicht nur feinste räumliche Strukturen frei, sondern auch zeitliche. Dabei fließt das zeitliche Element mehrfach ein:  Zunächst am ablesbaren Arbeitsprozeß, dann- wie beschrieben- als Erinnerung an Geräusche, Atmosphäre, die die Künstlerin in eine Darstellung mit einbringt, mit der sie etwas Flüchtiges, Vergangenes festzuhalten sucht. Mit wie hingehauchten transparenten Farbbahnen oder Pinselspuren, die die unterliegende Schicht verwischen, in Frage stellen, bringt Brigitte Dümling die Dimension des Vergänglichen ins Bild. Vergänglichkeit und Lebendigkeit, Verletzlichkeit und Stärke- zwischen diesen Polen bewegt sich ihr Schaffen. Die Bilder Brigitte Dümlings sind Ausdruck ihres Wesens und wahren trotzdem ihr Geheimnis. Jeder Betrachter wird es auf seine Weise entschlüsseln.
Es fällt auf, daß Brigitte Dümling nicht den menschlichen Maßstab verläßt- ungewöhnlich in der heutigen Zeit mit der Tendenz zur Gigantomanie gerade in der Malerei….. Raumgestaltung mittels Malerei: vielleicht eine Antwort auf die barocken Räume Roms, der Stadt, die Brigitte Dümling stark geprägt hat. Zu den bereits genannten Polen treten als weitere Beschränkung und Entfaltung, Stecken von Grenzen und ihr Überwinden. Brigitte Dümlings Arbeit kann man sicher der Kategorie der informellen Malerei zuordnen. Offene Bildstrukturen, Übermalungen, prozessualer Charakter und subjektive „Bilder“ als Antwort auf die vorgegebene Wirklichkeit sind Elemente, die seit den fünfziger Jahren in der deutschen Kunst in vielfach modifizierter Form anzutreffen sind. Doch man sollte sich nicht täuschen: Dümlings auf den ersten Blick so spontan wirkende Arbeiten zeichnen sich nicht nur durch strikte Konsequenz hinsichtlich Komposition und Farbgestaltung im Ablauf einer Reihe aus, sondern sie ordnen sich auch Gruppe für Gruppe einem strengen Maßverhältnis ein. Das gilt auch für die scheinbar frei angeordneten Bildtäfelchen (Abb. …) - das Modul des Erwin Heerich findet bei seiner Schülerin eine überraschende Anwendung.
Das Schaffen Brigitte Dümlings wird von vielerlei Gegenpolen bestimmt. Die dadurch erzeugte Spannung kommt in der einzelnen Komposition, im Ablauf von Serien und schließlich in der Beziehung zwischen Bild und Raum zum Ausdruck. Hinter den von Giacometti erwähnten Vorhängen, die die äußere Realität ausmachen, taucht die innere Realität auf. Brigitte Dümlings Bilder bezeugen das.
Katalogbeitrag zur Ausstellung  im Jahr 1992 in der Städt. Galerie Meerbusch:
„Brigitte Dümling. Bilder. Zeichnung und Malerei“
Margot Klütsch
(Kunstwissenschaftlerin und bis Ende 1992 Leiterin der Städt. Gal. Meerbusch)

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